Brandenburger Schöppenstuhl

Otto Tschirch betonte, dass der Brandenburger Schöppenstuhl fast ein halbes Jahrtausend lang als oberster Gerichtshof des märkischen Landes gedient hat, ist eine der stolzesten Erinnerungen der alten Kurstadt.
In dieser Zeit (16. Jahrhundert) der höchsten Blüte und größten Ansehens des Brandenburger Schöppenstuhls von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg, wo nicht nur aus der Mark, sondern auch den Nachbarländern Anhalt, Mecklenburg, Pommern (selbst dem schwedischen) und Polen Rechtsbelehrung erbeten wurde, tagten die Schöppen regelmäßig in dem Schöppenhaus zwischen den Städten, das um 1550 als baufällig abgerissen und durch einen Neubau ersetzt wurde. Das alte Gemälde, das die beiden Städte um 1581 wiedergibt, zeigt in seiner Mitte da, wo die Jahrtausendbrücke zu denken ist, ein turmartiges, viereckiges hohes mit einem Satteldach versehenes Gebäude, das das Schöppenhaus darstellen soll. Die Sitzungen fanden aber gelegentlich auch an anderer Stelle, etwa in der altstädtischen Stadtschreiberei oder in der der neustädtischen Schöppenkapelle der Katharinenkirche statt. Zu Pestzeiten, die im 16. Jahrhundert häufig wiederkehrten, mieden die Schöppen ihren gewöhnlichen Versammlungsort überhaupt die Stadt und zogen sich in die Weinberge zurück, die Altstädter Schöppen in die bei Radewege, die Neustädter in die von Klein-Kreutz. Ihre Zusammenkünfte zu Sitzungen fanden dann bei Butzow auf der Pählbrücke statt, die bekanntlich die schmale Wasserstraße überquert, die den Beetzsee und den Riewendsee verbindet. Die Wahl des Ortes entsprach der des Schöppenhauses zwischen beiden Städten in unmittelbarer Nähe des Wassers. Dieses Gebäude diente auch als gemeinsames Rathaus der beiden Städte Brandenburg – „eine Parallele zu Berlin-Cölln“.

schöppenstuhlAnsicht von Brandenburg um 1590, Johannes Ruischer (zugeschrieben), Öl auf Leinwand, um 1700; Schöppenstuhl in der Mitte des Bildes (Foto: Hans-Uwe Salge)


Die höchste Blüte hängt auf das engste mit dem Erlass der märkischen Landeskonstitution Joachim I. im Jahre 1527, der sogenannten Joachimica, die vor allem dem benachbarten Sachsen und Magdeburg gegenüber das besondere Brandenburgische Recht in seiner Eigentümlichkeit betonen und aufrechterhalten wollte. Besonders wichtig war den Märkern im Erbrecht die eheliche Halbteilung, die in diesem Erlass aufs Neue betont wurde. Im Übrigen aber neigten Fürst und Stände den fremden Rechten, dem römischen (Kaiser-)Recht und dem kanonischen oder geistlichen (im Gegensatz zum Sachsenrecht) zu, und durch dessen Beförderung glaubte Joachim I. ebenso sein Herrenrecht zu erweitern, wie den Einfluss der sächsischen Nachbarlandschaften Kursachsen und Magdeburg abzu-streifen. In diesem Sinne wurden die Oberhöfe des Inlandes und die größeren der Nachbarstaaten beiseitegeschoben und der Brandenburger Schöppenstuhl als ein der kurfürstlichen Autorität unterstellter Landeszentraloberhof in den Vordergrund gestellt, der für diesen Zweck besonders geeignet erschien, weil er von alters her das märkische Erb- und Güterrecht kundig gehandhabt hatte. So verlor der ehrwürdige Sachsenspiegel als Ausdruck sächsischen Rechts in der Mark fast alle Geltung und wird in den Akten des Schöppenstuhls nur noch als en Zauberbuch erwähnt, das die Hexen bei ihrem verdächtigen Verkehr mit dem Teufel brauchen.
Der Brandenburger Schöppenstuhl aber, neubelebt durch die oben bereits erwähnte Joachimica , erstreckte nun seine Tätigkeit über Rechtsbelehrungen auf Erbfälle und das ganze Strafrecht. Jedes Todesurteil, wie jedes Urteil auch Zulassung der Folter in der Mark, hatte von Brandenburg auszugehen, wodurch allein die außerordentliche Bedeutung des Schöppenstuhls sichtbar wird. Diese Zeit fällt zusammen mit einer der trübsten Epochen der deutschen Rechtsgeschichte, der höchsten Ausbreitung des Hexen- und Folterwesens.
Es wirkt erschütternd, wenn man die Verzeichnisse der märkischen Hexenprozesse durchsieht und feststellt, dass von 1530 bis 1730 über 700 derartige Prozesse in Brandenburg verhandelt worden sind und dass in der schlimmsten Zeit, zwischen 1550 und 1620, jährlich etwa 30 Fälle vorkamen. Die Urteile sind durch die Aufzeichnungen des Schöppenschreibers überliefert: „zu Feuer, zum Strange, mit dem Schwert vom Leben zum Tode verrichten, den Raben übergeben, das Rad sei deine ganze Gnad." Bei den Verhandlungen wurden „Geständnisse“ auch durch peinliche Vernehmungen, d.h. mit Folter herausgepresst. Otto Tschirch verwies auf die Schnelligkeit (oft nur ein Tag oder wenig längerer) hin, mit der man in solchen Fällen zum Urteil kam.
In dieser Zeit vollzog sich unter den Schöppen die Umwandlung von praktisch rechtserfahrenen Männern zu gelehrten Juristen. An Stelle ungelehrter Bürger traten immer mehr akademisch gebildete, zunächst Glieder der philosophischen Fakultät, bis endlich wirkliche juristisch vorgebildete Rechtsdoktoren in das Gericht einzogen. Aber die Fachgelehrsamkeit half keineswegs die Pest des Hexenwahns und der Unmenschlichkeit überwinden, vielmehr zeigen die weitverbreiteten Schriften der Brandenburger Juristen Zieritz und Benedikt Carpzow , wie sie den Zeitwahn nur in System brachten. Einzelne einsichtige und menschenfreundliche Männer, auch hier in Brandenburg, sind es gewesen, die dem Drängen des abergläubischen Volkes mit steigendem Erfolg zu widerstehen wagten, bis endlich im 18. Jahrhundert die Vernunft und die Menschlichkeit siegten. Zwei Namen gehören noch zur Geschichte des Schöppenstuhls in der Zeit der Reformation - Simon Roter und Zacharius Garcaeus, beide Schöppenschreiber.
Auch in der „Geschichte des Rechts“ von Uwe Wesel sind Hinweise zum Schöppenstuhl und der Bedeutung der Hexenprozesse in dieser Zeit zu finden. In der Einschätzung der Entwicklung des Strafrechts heißt es, das materielle Strafrecht des Mittelalters blieb im Prinzip unverändert, war von der Carolina weitgehend übernommen worden. Allerdings wurden schon im 16. Jahrhundert die schweren Verstümmelungsstrafen immer weniger angewendet. Meistens richtete man nur noch mit dem Schwert oder Strang. In zwei Bereichen nahm die Härte zu, das eine waren die Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert. In zwei Punkten gibt es Bezüge zur Stadt Brandenburg, einmal bei der Bedeutung des Schöppenstuhls (s.o.) und in der Person Benedikt Carpzow. Das Strafrecht war im Unterricht an den Universitäten im 16. Jahrhundert noch ein Anhängsel des Zivilrechts. Im 17. Jahrhundert wurde es eine selbständige Wissenschaft, und zwar durch Benedikt Carpzow (1595 – 1666). Benedikt Carpzow der Jüngere (1595–1666), ein Strafrechtler und Hexentheoretiker, der als einer der Begründer der deutschen Rechtswissenschaft gilt, ist einer der berühmtesten. Er lebte in Leipzig, war fast vierzig Jahre Vorsitzender Richter des berühmten Schöffengerichts in Leipzig. Durch ihn nahm dessen Bedeutung als „Schöffenstuhl“ noch weiter zu. So bezeichnete man diejenigen Gerichte, die auch für andere Gutachten schrieben oder Urteile vorbereiteten. Carpzow ist auch Mitglied der Leipziger Juristenfakultät gewesen und schrieb viele Bücher. Das wichtigste: Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium 1635, ein Handbuch des sächsischen Strafrechts, nach einem für ihn typischen System, nämlich dem der zehn Gebote, und mit neuen Genauigkeit der dogmatischen Begriffe. Er war ein Zeitgenosse von Descartes und Hugo Grotius, aber doch ein Mann der alten Schule. Gehörte als Lutheraner noch in die mittelalterliche Frömmigkeit der aristotelischen Scholastik. Das prägte seine Vorstellungen. Carpzow, der tief in der Religiosität seiner Zeit verwurzelt war, war auch im Strafrechtsdenken stark religiös geprägt. Ein Verbrechen galt als Auflehnung, letztlich als Beleidigung Gottes selbst. So war für Carpzow der Täter nicht nur ein Rechtsbrecher, der gegen ein staatliches Verbot verstoßen, sondern auch ein Sünder, der sich gegen Gott aufgelehnt hatte. Die Strafe besaß für ihn neben der Vergeltung auch die Funktion der Abschreckung der Allgemeinheit vor dem Verbrechen. Neben der zeitbedingten Härte seiner Strafauffassung (mitten im Dreißigjährigen Krieg) sollte dennoch das Strafmaß des Rechtsbrechers gerecht ausgewogen werden. Der Staat muss strafen, weil Gott es will. Eine theologische Straftheorie.
Überall in Europa gab es Hexenprozesse, die meisten in Deutschland. Neben dem Holocaust an den Juden war es die größte Massentötung von Zivilisten. Die meisten Opfer waren Frauen, besonders ältere. Die meisten Opfer gehörten zur unteren Gesellschaftsschicht. Es waren Strafprozesse ohne Straftat. Eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Rechts im hellen Licht der europäischen Neuzeit.

carpzowBenedikt Carpzow, Junior, Zweitausend Bildnisse und Lebensabrisse berühmter deutscher Männer, Leipzig 1870, Urheber unbekannt


Professor Wesel kommt zu dem Fazit: „Unendlich viel ist darüber geschrieben worden. Wenig Seriöses. Ist ja auch eine interessante Mischung aus Frauenfeindlichkeit, Gewalt und Sexualität. Waren es heidnische Kulte? Ging es um den Prozess der Zivilisation zur sozialen Disziplinierung? War es ein Instrument der Glaubenskämpfe? Oder eine Abwehrreaktion der Bauern gegen die Armen? Ein Kampf der Fürsten gegen die Hebammen, der Ärzte gegen die weisen Frauen oder ganz allgemein ein Feldzug gegen das weibliche Geschlecht? Ein Stelldichein von Fragen und Fragezeichen. Ohne den modernen Inquisitionsprozess wäre des jedenfalls nicht möglich gewesen.“
Es ist nicht leicht aus heutiger Sicht, die Tätigkeit des alten Schöppenstuhls zu würdigen. Tschirch kam vor Jahrzehnten zu der Einschätzung, abgesehen von der Zeitkrankheit des Zauberwahns müssen sie den Rechtsanschauungen ihrer Epoche gerecht geworden sein. Man habe kein Recht, auf die alte Zeit mit ihrer so unendlich geringeren Allgemeinbildung herabzusehen.
1817 erfolgte eine öffentliche Bekanntmachung über die Aufhebung des Schöppenstuhls.
Literatur:
Otto Tschirch, Im Schutze des Rolands kulturgeschichtliche Streifzüge durch Alt-Brandenburg, Verlag J. Wiesicke, Brandenburg (Havel),1938
Uwe Wesel, Geschichte des Rechts“ – Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht“, Verlag C. H. Beck München, 1997