Euthanasie

Der dunkle Schatten Martin Luthers

Martin Luthers steckte mit seiner Zwei-Reiche-Lehre einst den Rahmen für Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und andere religiöse Minderheiten ab. Und so fordert Luther neben der Verfolgung und teilweisen Hinrichtung der Juden die Hinrichtung von Andersgläubigen, von so genannten "Wucherern", von Prostituierten, von als Hexen verleumdeten Frauen, von Predigern ohne amtskirchlichen Auftrag, und er droht Bürgern den Tod an, die diese nicht denunzieren.

Denn während bei anderen historischen Figuren durchweg die Messlatte des 21. Jahrhundert angelegt wird, gilt der Reformator vielen Menschen immer noch als hehre Lichtgestalt und mutiger Freiheitskämpfer.

Nur: Gemessen am Wissen des Jahres 2017 und unserer freiheitlich demokratischen Verfassung ist Luther ebenso ein Despot, der einer totalitären Staatsform durchaus Vorschub leistete und sicherlich (neben vielen anderen) als einer der geistigen Vorväter einer rassischen Ideologie bezeichnet werden darf, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekanntlich in eine - von den Deutschen produzierte - Jahrhundertkatastrophe führte.

Über geistig behinderte Kinder meinte Luther, man müsse "derartig missgeborene Kinder ertränken". Behinderte allgemein stigmatisierte er als „wahre Teufel“. (Anm.: In den Tischreden 4513/5207 bezeichnet Luther (geistig) behinderte Kinder als ein vom Satan in die Wiege gelegtes, seelenloses Stück Fleisch (massa carnis). (4) Das klingt mehr als zynisch, sind jedoch die Worte eines sehr gebildeten Mannes. Fairerweise muss dem hinzugefügt werden, dass geistig oder körperlich Beeinträchtigte in der Gunst ihrer Mitmenschen im ausgehenden Mittelalter nicht gerade hoch standen. Um es ganz vorsichtig auszudrücken. Christliche Nächstenliebe wurde zwar allerorts gepredigt – allzu sehr verbreitet war sie dennoch nicht. Und daran änderte auch die aufziehende Renaissance nur wenig.

Es zeigt sich, dass auch die Kirchenfürsten den Krüppel nie als Menschen gesehen haben. Auch Martin Luther glaubte an die Hand des Teufels, denn dieser verursache "die Taubheit, die Stummheit, die Lahmheit und das Fieber". Luther selbst wollte ein Krüppelkind eigenhändig ertränken, um es dem Teufel fortzunehmen.
Für den Mord an den Psychatriepatienten nutzten die Nationalsozialisten den harmlos klingenden Begriff „Euthanasie“, der aus dem Griechischen stammt und in der wörtlichen Übersetzung für „guter Tod“ steht. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es verschiedene Formen der „Euthanasie“, die zum Teil auch zeitgleich abliefen. Bei der bekanntesten Mordaktion, der Aktion „T4“, wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 die Kranken und behinderten in extra eingerichteten Tötungsanstalten vergast. So kamen Patienten der Landesanstalt Görden in der Gaskammer am Brandenburger Nikolaiplatz und in der Gaskammer in Bernburg um.
Eine weitere Mordaktion war das so genannte Reichsausschussverfahren. Es betraf Kinder und Jugendliche, die in „Kinderfachabteilungen“ mit überdosierten Beruhigungsmitteln getötet wurden. In der Landesanstalt Görden, wo 1940 die ersten dieser „Kinderfachabteilungen“ töteten die Ärzte mit dem Medikament Luminal.
Andere Patienten gingen wegen unzureichender Pflege und Mangelernährung zugrunde oder wurden ab dem Jahre 1942 – während der so genannten dezentralen „Euthanasie“ – in Anstalten verlegt, in denen Ärzte und Pfleger ebenfalls mit Medikamenten töteten.

Zwangssterilisation und „ Euthanasie“

Die Machtübertragung an Adolf Hitler im Jahre 1933 leitete wie für die gesamte Psychiatrie auch für die Landesanstalt Görden das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte ein. War vordem von Leistungskürzungen und von Sterilisation mit Einwilligung des Kranken die Rede, so begannen die Nationalsozialisten, gestützt auf schon jahrelang geführte Diskussionen um rassenhygienisch-eugenische Konzeptionen, einen Feldzug gegen geistig und körperlich behinderte Menschen, der in Zwangssterilisastion und Massenmord gipfelte. Auch Mitarbeiter der Gördener Einrichtung und die Landesanstalt als Institution waren in diese Verbrechen verstrickt bzw. haben sie maßgeblich mitgetragen.
Das am 1.Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ definierte für alle Anstaltsärzte eine besondere Funktion innerhalb des Verfahrens der Zwangssterilisation. Die psychiatrischen Krankenhäuser seien- wie es in einem Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg im Februar 1934 hieß- „an erster Stelle berufen, die Durchführung des Gesetzes in Gang zu bringen. Sie haben das wichtigste und verantwortungsvolle Recht der Antragstellung und müssen von diesem Recht bei allen in Betracht kommenden erbkranken Anstaltsinsassen lückenlos und sobald wie möglich Gebrauch machen.“

euthanasie01Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (Auszug) trat am 1. Januar des Folgejahres in Kraft. Es bildete die Grundlage zur Zwangssterilisation so genannter Erbkranker.


Im Rahmen der im September 1939 begonnenen Erwachsenen-„Euthanasie“, die unter der Tarnbezeichnung „T-4-Aktion“ durchgeführt wurde - benannt nach deren Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4-war die Gördener Anstalt Herkunft-und Zwischenanstalt. Sowohl Gördener Patienten als auch Kranke anderer Einrichtungen wurden von hier in die Tötungsanstalten (vornehmlich Brandenburg und Bernburg) transportiert. Die Landesanstalt galt obendrein wegen ihres Direktors, der auch als Gutachter arbeitete, als zuverlässig im Sinne der „Euthanasie“. Bei der „Kindereuthanasie“ gehörte Hans Heinze zu jenem Personenkreis, der 1939 die konzeptionellen und organisatorischen Voraussetzungen und mit dem „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb-und anlagenbedingter schwerer Leiden“ ihr Ausführungsorgan schuf. Nach Aussage von Dr. Hefelmann, einem der Hauptverantwortlichen der „Kindereuthanasie“, war allen Teilnehmern dieser Besprechungen klar, „daß diese dazu dienen sollten, eine Möglichkeit zu schaffen, unheilbar kranken Kindern den Gnadentod zu gewähren.“ Ein ausgeklügeltes Meldesystem sollte alle psychisch kranken und geistig behinderten Kinder, später auch Jugendliche, erfassen. Den Gutachtern, oblag die Entscheidung über Leben und Tod der Patienten. Ab 1940 richtete der Rechtsausschuss in ca. 35 Heil- und Pflegeanstalten so genannte Kinderfachabteilungen ein. Für eine Vielzahl von ihnen konnte „Euthanasie“-Maßnahmen nachgewiesen werden. Die erste dieser Kinderfachabteilungen entstand im Sommer 1940 in der Landesanstalt Görden. Sie entwickelte sich zur- zumindest inoffiziellen -„Reichsschulstation“. Hier wurden Ärzte unterwiesen, die für andere Kinderfachabteilungen vorgesehen waren. Einer von ihnen, der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach, Dr. Schuch, sagte später vor Gericht aus, dass ihm in Görden eine Ärztin erklärt habe, „ wie sie die Kindereuthanasie handhabe (Einschläfern mit Luminaltabletten und Spritzen)“.
(Quelle: Draußen auf dem Görden, Beatrice Falk und Friedrich Hauer, BERLIN VERLAG Arno Spitz GmbH, S.24-25)



Beispiele für Opfer

Elvira Manthey
geb. Hempel, Die Hempelsche, Das Schicksal eines deutschen Kindes, das 1940 vor den Gaskammern umkehren durfte, 1999
Die Autorin, Tochter eines Arbeitsscheuen, kam mit vier Jahren in ein Waisenhaus in Magdeburg und geriet dadurch in die Mühlen der NS-Gesetzgebung, da nach dem Erbgesundheitsgesetz arbeitsscheu auch als vererbbar eingestuft wurde. 1938  wurde sie dann durch einen gewissenlosen Prof. Dr. Fünfgeld in die Irrenanstalt Uchtspringe eingeliefert und überlebte wie durch ein Wunder im Jahre 1940 die Gaskammer in Brandenburg. Nach der NS-Zeit musste sie sich ohne Schulbildung durch das Leben schlagen.


inge hInge H.
Die 1933 geborene Inge H. litt an Epilepsie und wurde am 9. März 1938 in die Landesanstalt Potsdam aufgenommen. Zwar konnte sie nach wenigen Monaten >>versuchsweise<< zu ihren Eltern zurück, doch erfolgte am 1. Juni 1938 die erneute Einweisung in die Landesanstalt Potsdam. Hier blieb Inge bis zum 5. September 1938 und wurde dann - wie die Mehrzahl der Kinder und Jugendliche der Potsdamer Einrichtung – in die Landesanstalt Görden verlegt. Die Eltern beantragten oft Urlaub für Inge, der in der Regel von der Anstaltsleitung auch genehmigt wurde. Das letzte Mal war sie vom 14. Dezember bis zum 19. Januar 1940 zu Hause, wie der Aktendeckel ihrer Krankenakte belegt. Auf ihm findet sich auch das Todesdatum von Inge H. >>Ausgeschieden<< am 8. Oktober 1940. Die Eltern von Inge erhielten später die Todesnachricht und eine Urne aus einer Österreichischen Anstalt. Die Verschleierung von Todesursache, Sterbeort und –datum gehörte zu der üblichen Vorgehensweise der >>Euthanasie<<-Aktionen. Der 28. Oktober 1940 war jener Tag, an dem der letzte Transport mit 56 Kindern und Jugendlichen aus der Landesanstalt Görden in die Tötungsanstalt Brandenburg abging. 35 Gehirne dieser Kinder – darunter auch das von Inge H. – wurden in der Sammlung von Prof. Julius Hallervorden, Direktor der Abteilung für Neuropathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, aufgefunden.“
Quelle: Draußen auf dem Görden
Eine Zeitreise durch die Geschichte der Landesklinik Brandenburg in Wort und Bild
Beatrice Falk und Friedrich Hauer
BERLIN VERLAG Arno Spitz GmbH